Der ringförmige Atlas (C1) ist der Träger des Kopfes. Mit dem Axis (C2) bildet diese knöchernen Halswirbel die kraniozervikale Verbindung. Die okzipito-atlantale und atlantoaxiale Artikulation sorgen für 50% der Flexion bzw. Rotation in der Halswirbelsäule. Aufgrund ihres hohen Bewegungsgrades zeigen diese knöchernen Segmente bei Erwachsenen häufig Frakturen bei Traumen der Wirbelsäule. C1- Atlas – Frakturen sollten bei allen Patienten sofort erkannt und behandelt werden, obwohl sie nur selten eine Operation erfordern. Jede knöcherne Fraktur des Atlas verdient eine gründliche Untersuchung der ligamentären Strukturen zwischen O-C1 und C1-C2. Bis zu 70% der Atlasfrakturen können andere Wirbelsäulenelemente einschließen, insbesondere C1-C2-Komplexfrakturen.
Epidemiologie
Atlasfrakturen machen 2-3% aller Wirbelsäulenverletzungen aus und etwa 7-13% aller Halswirbelfrakturen (~25% aller Verletzungen des kraniozervikalen Überganges). Das Durchschnittsalter der Patienten mit Atlasfraktur liegt bei 64 Jahren wobei eine bimodale Verteilung vorliegt (20-30 Jahre und 80-85 Jahre). Der häufigste Typ der Atlasfraktur ist eine isolierte anteriore oder posteriore Bogenfraktur (Gehweiler Typ I & II). Die zweithäufigste Art sind isolierte Berstungsfrakturen (Gehweiler Typ III & IV) ohne neurologische Ausfälle.
Klinik
C1-Frakturen präsentieren sich in der Regel mit Nackenschmerzen oder Torticollis ohne Anzeichen einer neurologischen Funktionsstörung. Bei instabilen Frakturtypen kann eine Kompression des Myelons sich klinisch mit neurologischen Ausfällen v.a. der kaudalen Hirnnerven (VI bis XII) bemerkbar machen.
Radiologische Befunde
Es existieren mehrere Klassifizierungssysteme für Atlasfrakturen. In klinischen Studien sind die 3 am häufigsten verwendeten die Jefferson-Klassifikation, gefolgt von der Landells-Klassifikation und die Gehweiler-Klassifikation. Im US amerikanischen Raum und Asien wird mehrheitlich die Jefferson- und in Europa die Gehweiler-Klassifikation verwendet.
Klassifikation n. Gehweiler
Frakturtyp: | Beschreibung: |
Typ I | Fraktur des vorderen Atlasbogens (uni- oder bilateral) |
Typ II | Fraktur des hinteren Atlasbogens (uni- oder bilateral) |
Typ III | Kombinierte Frakturen des ant. & post. Bogens (= Jefferson Fx = „burst“-Fx) |
Typ IV | Fraktur der Massa lateralis des Atlas – C1 |
Typ V | Fraktur des Processus transversus des Atlas |
Lig. transversum atlantis (engl. TAL) Verletzungen, Klassifikation nach Dickman
Typ: | Ort der Ruptur: |
1a | Mittig / zentrale TAL Ruptur |
1b | Ruptur nahe der Massa lateralis |
2a | Knöcherne Avulsion an der ligamentären Ansatzstelle |
2b | Knöcherne Avulsion mit Fraktur der Massa lateralis |
Besonderes / zu beachten
Jefferson Fraktur(en)
Kombinierte Frakturen des vorderen und hinteren Atlasbogens werden auch Jefferson Frakturen genannt (= Gehweiler Typ III). Prof. Geoffrey Jefferson hat diese Kombinationsfrakturen des Atlas erstmals 1920 beschrieben und weiter in verschiedene Subtypen eingeteilt. Die klassische Jefferson Fraktur ist die 4-Part Fraktur, wobei der vordere und hintere Bogen des Atlas beidseitig durchgebrochen ist. Es können aber auch Frakturtypen mit 2 oder 3 Frakturteilen entstehen.
Die Jefferson Fraktur entsteht wenn Kräfte axial auf die Halswirbelsäule wirken (Bsp. Kopfsprung ins flache Wasser). Die einwirkenden Kräfte werden direkt von den Condyli occipitales über die Gelenkflächen auf C1 und C2 weitergeleitet. Aufgrund der fehlenden Bandscheiben gibt es keinen Puffereffekt und die Kräfte werden aufgrund der Gelenkstellung nach lateral abgeleitet. In der Folge kommt es zum Auseinanderbersten der Atlasbögen und einer Zerreißung des Ligamentum transversum atlantis (TAL in engl.). Die mögliche Folge ist eine C1-C2 Instabilität mit Kompression des Myelons.
„Rule of Spence“
In der „ap-Dens Zielaufnahme mit offenem Mund“ können Asymmetrien nachgewiesen werden sofern eine Dislokation der Atlas Frakturfragmente besteht. Gemäss der „Regel nach Spence“ ist eine Ruptur des Lig. transversum atlantis höchst wahrscheinlich, wenn der laterale Überhang beider Massa laterales von C1 auf C2 zusämmengezählt mehr als 6.9mm beträgt. Nach Heller et. al. wird der cut-off bei kumulierter Abweichung >8.1mm festgelegt. Eine bessere Beurteilung liefert jedoch heutzutage die MR-Bildgebung der HWS zur Beurteilung der ligamentären Strukturen sowie Funktionsaufnahmen.
Kombinationsfrakturen C1 & C2 weitere Verletzungen
Begleit – oder Kombinationsfrakturen C1 & C2 treten oftmals bei schweren Traumen auf und müssen daher immer gesucht werden (Bsp. Densfraktur, Hangman-Fraktur). Auch kann eine Atlantoaxiale Subluxation vorliegen mit konsekutiver Fehlstellung. In ca. 30% der Fälle liegt zudem eine Verletzung der A. vertebralis vor mit möglicher Basilarinsuffizienz.
Atlanto-Dentaler Intervall (ADI)
ADI in mm: | Beurteilung: |
<3mm | Normwerte bei Erwachsenen (bei Kindern <5mm) |
3-5mm | Mögliche Verletzung des. Lig. trans., intaktes Lig. alare und Lig. apicale |
>5mm | Verletzung des Lig. trans. / Lig. alare & Tectorialmembran sehr wahrscheinlich |
Operationsindikation
Heutzutage gibt keine allgemeingültigen Behandlungsrichtlinien auf der Basis von Level-I-Studien. Die derzeitige Behandlung reicht von nichtoperativem bis zu operativem Management, je nach Frakturmuster und Integrität der umgebenden Bänder. Darüber hinaus stellen diese Frakturen bei älteren Patienten ein einzigartiges Dilemma dar. Die Morbidität von Atlasfrakturen bei älteren Menschen wird durch die geringere Heilungskapazität und das Vorhandensein anderer medizinischer Komorbiditäten erschwert. Zusätzlich beschränken Kombinations- oder Komplexfrakturen (C1-C2), welche in bis zu 70% der Atlasfrakturen auftreten können, allgemeingültige Indikationsstellungen für das konservative oder operative Management. Die Arbeitsgruppe „Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie – DGOU“ haben daher Guidelines (Stand 2018) zur Behandlung von isolierten C1 Frakturen herausgearbeitet. Aufgrund der mangelnden Datenlage basieren diese Richtlinien jedoch nur auf medizinischer Evidenz der Stufen III-IV. Ähnliche Guidelines wurden ebenfalls von der AO Spine herausgearbeitet. Eine zusammenfassende Gegenüberstellung sind in unten aufgelisteten Flowcharts ersichtlich.
Outcome
Die meisten Studien zur nicht-operativen Versorgung von C1 – Atlas – Frakturen wurden bei Patienten mit Jefferson-Frakturen (= Gehweiler Typ III) durchgeführt. Die Gesamtprognose ist gut bei stabilen Frakturen und in der Mehrzahl der Fälle führt eine konservative Behandlung zu einer adäquaten Frakturheilung. Bei Patienten mit okkulten Frakturen, schlechter Heilung sowie knöchernen Anomalien wird die „non-fusion“-Rate bei ca. 17% bis 20% angesiedelt.
Autor(en) des Artikels
- Dr. med. D. Schöni, Facharzt für Neurochirurgie, executive MBA HSG
Referenzen
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